Gespräch mit Prof. Stefan Forster,
Leiter Forschungsbereich Tourismus und Nachhaltige Entwicklung der ZHAW in Wergenstein,
09.05.2020
Sven Fawer: In einer Publikation von 2016 haben Sie über das Konzept des «Ermöglicher-Netzwerkes» im Tourismus geschrieben. Dabei wird auch ein Abhängigkeitskreislauf verschiedener Bereiche einer Region, die nicht alleine auf Tourismus spezialisiert ist, beschrieben. Also quasi vom Gast, über den Gastgeber bis zu Bereichen wie z. B. die Landwirtschaft dieser Region oder das lokale Handwerk.
Mich würde vor allem interessieren, ob Sie diesbezüglich schon neue Erkenntnisse gewonnen haben, vor allem Dank der Bildung des neuen Naturparks Beverin, bei dem Sie mit Ihrer Aussenstelle der ZHAW eine zentrale Rolle gespielt haben, und von dem Rheinwald seit kurzem auch ein Teil ist.
Stefan Forster: Den Naturpark haben wir mit unserer Institution im Schams bzw. in Wergenstein ja sozusagen lanciert. Es war als Entwicklungsarbeit eine unserer ersten Aufgaben. Heute ist er als eigenständiger Verein quasi ein Spinn-off unserer Forschungsgruppe. Natürlich stehen wir immer noch nahe am Naturpark, da er praktisch seit seiner Geburt unser Forschungsobjekt ist. Dabei ist interessant, dass gerade durch dieses Gefüge – unser Institut hat seinen Sitz in Wädenswil – ein Austausch sowohl zwischen Stadt und Land, als auch zwischen Wissenschaft und Praxis stattfindet, was wahrscheinlich noch mehr Potenzial birg, als diese Kooperation schon tatsächlich bewirkt hat.
Der Naturpark war von Anfang an darauf ausgelegt, ein Ermöglicher zu sein. Das war und ist quasi die Philosophie dahinter. Er gibt ein Ziel vor; die Modellregion für Nachhaltigkeit. So soll er allen, die hier dieses Ziel auch sehen und verfolgen, helfen, ihre Ideen umzusetzen. Es hat somit fast schon etwas subversives an sich, weil Nachhaltigkeit als gemeinsames Ziel, das vorgegeben ist, etwas komplexes ist, was immer wieder erklärt werden muss. Das Ziel hat auch den Vorteil, dass Nachhaltigkeit breit und somit vieles möglich ist. Es ist nicht nur eine einzige Idee, wie z. B. Skifahren oder Radfahren. Seriös angewendet ist Nachhaltigkeit demnach durchaus eine Haltung, bei der manche mithalten wollen oder können und andere nicht. Es ist klar ein Ziel, das von unten nach oben agiert und schon vorgegeben ist.
Dies führt zu einem Problem, das auch so in Rheinwald ein Stück weit vorzufinden ist: der eigentliche Konsens lautet: Wo wollen wir hin? Nimmt man zum Beispiel die Bergbahnen, oder anders gesagt, sobald es mächtige Institutionen gibt, die auch politisch verbandelt sind, kann das oftmals eine Blockade bedeuten, die in einer Diskussion nicht weiterführt. Deshalb geht es darum, irgendwann Entscheide darüber zu fällen, in welche Richtung man gehen will.
Des Weiteren werden solche Naturpärke auch evaluiert. Dabei geht es auch um ihre Akzeptanz bei der lokalen Bevölkerung, und diesbezüglich wird der Park Beverin kaum in Frage gestellt. Anders als z. B. der Park Ela in Mittelbünden, der viel mehr Probleme hat und bei dem auch ein viel komplexeres System vorzufinden ist, wie beispielsweise ein stärkerer Tourismus, der mitbestimmt. Ich sehe demnach eine hohe Akzeptanz in direkter Relation zur eben erwähnten Ermöglicher-Strategie.
Wissenschaftlich gesehen planen wir die Effekte des Parks auch irgendwann mal anzuschauen. Grundsätzlich gibt es aber noch keine systematische Auswertung der Auswirkungen des Parks auf die Region.
SFa: Für mich ist unumstritten, dass die von Ihnen angesprochene Akzeptanz bei der Bevölkerung eine zentrale Rolle spielt. In Rheinwald war diese Thematik auch beim gescheiterten Nationalparkprojekt Adula ein zentraler Punkt. Bis auf Nufenen hatten die damaligen Gemeinden das Projekt klar befürwortet. Somit gilt die jetzige Eingliederung im Park Beverin quasi als Gegenantwort darauf und weiter als Zeugnis dafür, dass ein bestimmter Wille vorhanden ist, gerade zum Beispiel seine eigene nachhaltige Wirtschaftsweise nach aussen zu vermitteln.
SFo: Da war Rheinwald schon immer weit vorne dabei, gerade als eigentlich erstes Bio-Valley. Dies hatte man auch so kommuniziert, im Nachhinein vielleicht aber fast schon zu wenig. Heute ist dies eine Strategie, die vom Val Poschiavo sehr erfolgreich verfolgt wird. Eigentlich waren aber die Rheinwaldner*innen früher, und vor allem ohne Ausnahmen, zu 100% bereit gewesen.
SFa: Man spricht im Falle von Rheinwald vor allem von einer Spezialisierung auf die Bio-Milchwirtschaft. Im Laufe meiner Recherche bin ich zu der Hypothese gekommen, dass diese einseitige Ausrichtung ganz einfach geschichtlich gewachsen ist. Fokussiert man sich heute im Schams vermehrt wieder auf den Acker- bzw. Getreideanbau, waren im Rheinwald in früheren Zeiten schon immer genügend finanzielle Mittel vorhanden, um gerade Getreide von ausserhalb zuzukaufen. Dank dem Säumerwesen war nicht nur das Geld vorhanden, das Getreide konnte dank der Lage des Tals ja quasi beim vorbeikommen abgeladen werden und man konnte sich so die Schwierigkeiten und Unsicherheiten eines hochalpinen Getreideanbaus ersparen.
SFo: Rheinwald hat ja dank seiner Lage auch ein riesiges Potenzial und würde mehr Möglichkeiten bergen, als nur eine monokulturelle Milchwirtschaft. Im Misox z.B., auf der anderen Seite des S. Bernardinos, entstand ja so die Alpenlachszucht, dies nicht zuletzt wegen der logistisch guten Lage. Fisch wäre auch in Rheinwald ein tolles Produkt, auch mit dem Bezug auf den Hinterrhein. Klar müsste aber dafür auch ein Interesse der lokalen Bevölkerung vorhanden sein. Gerade die gut funktionierende Milchwirtschaft und ihre Subventionierung ist diesbezüglich ein Nachteil, denn so gibt es nicht viele Gründe für eine Strategieänderung.
SFa: Natürlich gibt es Faktoren, wie den Willen einer lokalen Bevölkerung, die man nicht beeinflussen kann. Dennoch sehe ich in Rheinwald auch gewisse teilweise schon vorhandene Ansätze, die sich nicht alleine nach einer einseitigen Milchlandwirtschaft richten. So sind z. B. bei den Sennereigenossenschaften Lösungsfindungen im Gang, was das Restprodukt, die Molke und ihre Verfütterung an genossenschaftseigene Schweine – die wiederum für ihr Fleisch gehalten werden – oder den Verkauf an die Lebensmittelindustrie angeht. Geschlossene Kreisläufe scheinen den Rheinwaldner*innen demnach auch wichtig zu sein.
SFo: Gerade bei der Sennerei Nufenen geht es ja offensichtlich um vielmehr, als Kreisläufe. Es geht um Marketing, um Verkauf, was auch auf eine sehr erfolgreiche Art und Weise, seit mehreren Jahrzehnten schon stattfindet. Für das Tal aber ginge es durchaus auch um andere Fragen; z. B. Nachhaltigkeit oder Suffizienz. Es ginge darum, wie man «das Tal» stärken kann und nicht alleine darum, wie viele Käse daraus herausrollen könnte. Das birgt natürlich auch eine Schwierigkeit: über solche Sachen mit den Leuten zu diskutieren, denn wenn etwas unbestritten gut läuft, stehen auch andere Sachen im Vordergrund, als solche Kreislaufgeschichten.
Im Gegensatz dazu haben Sennereien wie jene in Splügen, aber auch z. B. jene in Andeer eine regelrechte Haltung zum Beruf, eine ganzheitliche Sicht auf die Dinge. Es geht ihnen nicht alleine um möglichst viel Verkauf. Da zeigt sich dann ein anderes Problem innerhalb des Tals, nämlich die grossen Unterschiede in der Wahrnehmung davon, in welche Richtung es gehen soll.
Dabei fällt mir gerade eine Anekdote ein; wir hatten mal vor 10-15 Jahren eine Zukunftswerkstatt in Nufenen gemacht, das damals noch eine eigene Gemeinde war. Im Workshop ging es um ähnliche Zukunftsfragen und wir führten ein Tischgespräch mit Landwirt*innen über die biologische Landwirtschaft und ihren Erfolg. Dabei fragten wir auch, wo sie selber einkaufen würden und dabei kam heraus, dass viele im Tal nach Thusis fuhren, um Produkte in Läden wie Lidl oder Landi zu kaufen. Da zeigen sich schon die extremen Widersprüche in der ganzen Sache.
Natürlich findet gerade im Moment ein Wandel statt, was dieses Denken angeht. Es ist einfach ein wenig eine «Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen», weil es noch nicht überall gleich weit ist. Es gibt auch in Rheinwald Leute, die sich für eine solche Haltung durchaus interessieren. Aber es gibt dennoch einen Unterschied, gerade zu den Agglomerationen und Städten, wo ein Hype daraus entsteht, der jetzt durch die Corona-Krise nochmals grösser und beschleunigt wird, schaut man sich die neuesten Zahlen zu Bio-Produkte an. Rheinwald ist aber heute auch eine urbane Welt, wenn man so sagen will. Es gibt neue Leute, die kommen, es gibt Leute die Impulse von Aussen bringen und es wird sich heute womöglich auch schon etwas geändert haben, im Vergleich zu vor 10 Jahren.
SFa: Um nochmals auf den Tourismus zurückzukommen; Ich sehe momentan die Überschaubarkeit von Dörfern wie jene in Rheinwald oder z. B. auch im Schams als eine der grossen Chancen, um gegen eine Abhängigkeit von der Tourismusindustrie vorzugehen. Gerade aus lokal-gesellschaftlicher Sicht zeigt sich der Vorteil gegenüber sogenannten Alpinen-Resorts. Dank einer geringen Anzahl an Hotels oder Feriensiedlungen ist beispielsweise der Unterschied zwischen Hoch- und Nebensaison im Dorf weniger spürbar. Ein Dorfleben bleibt erhalten, wenn die Einwohnerzahl in der Nebensaison nicht drastisch sinkt und eine starke Fluktuation ausbleibt. So bleiben auch die meisten Infrastrukturen und Läden weiterbestehen und können weiterbenutzt werden. Urbanistisch gesprochen trifft die Bauweise solcher Dörfer die Ansprüche seiner dauerhaften Bevölkerung.
Natürlich stellt sich auch die Frage, welche Art von Gast eine solche Region anspricht. Neben Tagestourismus, der Abends wieder verschwunden ist, muss es eine Art von Gast sein, der andere Ansprüche hat, als jener in St. Moritz oder der Lenzerheide. Aber welche Leute sind das?
SFo: Das ist sicherlich eine wichtige Frage, gerade wenn es im Kontext Tourismus und Nachhaltigkeit darum geht, wegzukommen von einer starken Saisonalität oder von einseitigen Abhängigkeiten. Tourismus als Monokultur kann nicht nachhaltig sein. Die Idee ist also, dass der Tourismus breit abgestützt ist bzw. dass er branchenübergreifend ein Thema ist. Es geht eigentlich um eine Lebenssystem am Ort, was in etwa unserem Ansatz entspricht. Schwierig ist, dass Tourismus per se in vielen Köpfen ein wenig negativ konnotiert ist. Für den einen ist er die Heilsbringung, für den anderen des Teufels. Beide Haltungen bedeuten im Grundsatz aber ein falsches Verständnis davon, denn eigentlich geht es ja um Begegnung vor Ort, also ein sozialer, kultureller Aspekt, der bestenfalls auch einen Impuls und Austausch bewirkt. Das reicht bis zum Aspekt, dass ein Bauer seinen Salsiz verkaufen kann. Das alleinige Kaufen eines Angebotes oder Buchen eines Hotels greift aber demnach zu kurz. Es ist wichtig, dass man die gesamte Breite von Tourismus sieht, weil es letztendlich um eine Balance geht.
Man kann schon sagen, dass es in diesen Regionen mehr Leute von aussen braucht, gerade weil es kleinstrukturiert ist und weil es demographische Schwierigkeiten gibt. Und da fängt es schon an mit dem, was wir unter Tourismus verstehen; Es braucht neue Leute, neue Impulse. Das kann jemand sein, der etwas kauft oder der vielleicht eine Zweitwohnung in Rheinwald hat. Alleine das ist ein Potenzial für einen solche Region. Einseitige Zweitwohnungskulturen, wie im Oberengadin oder Crans-Montana sind nicht nachhaltig und sind eigentlich ein «Verscherbeln vom Tafelsilber», denn danach hat man keinen Einfluss mehr. Im Rheinwald aber kommen Leute, die unterschiedliche und verschieden lange Bezüge zur Region haben und sie so etwas wertvolles hinterlassen.
Das geht so weit, dass man auch die Flüchtlingsthematik miteinbeziehen könnte. Das sind auch neue Leute, die nach Europa kommen, an einen Ort wo es Räume gibt, bei denen es mehr Menschen bräuchte. An sich wäre das auch eine Art von Tourismus. Es sind Leute, die aus einem bestimmten Umfeld kommen und die neue Impulse einbringen könnten. Dazu fehlt natürlich oftmals die nötige Offenheit in manchen Regionen, solche Sachen offensiv anzugehen.
Gerade auch in dieser Corona-Zeit hat sich ja gezeigt, dass in manchen Gegenden die Zweitwohner auf einmal nicht mehr erwünscht sind. Es hat fast schon xenophobe Züge angenommen. Man kann fast sagen, dass ein Kernproblem jetzt aufgebrochen ist, das mit einer starken mentalen Blockade zu tun hat und quasi vertritt, dass jeder Aussenstehender nichts zu sagen hat.
Grundsätzlich geht es also um die Betrachtung der Diskussion um den Tourismus. Denn nur als Begriff ist er zu platt. Das hat Auswirkungen bis in die Forschung; es gibt in der Schweiz keine Uni mehr, die sich explizit ein Institut für Tourismus leistet. Es ist etwas, das zu banal ist und kein Renommee beinhaltet. Dennoch zeigt sich an jenen Orten, an denen wir uns damit beschäftigen, dass eine ganzheitliche Betrachtung des Begriffs eine zentrale Rolle in der Entwicklungsfrage spielt.
SFa: Es wird mir nach und nach klarer, dass der Tourismus durch sein komplexes Wesen womöglich zu umfangreich wäre als Entwicklungsthema für meine Arbeit. Dennoch finde ich Ihren Ansatz, Tourismus als etwas zu betrachten, dass alle Bereiche einer Region wie Rheinwald umfasst und so fast schon eine übergeordnete Rolle spielt, sehr wertvoll.
SFo: Vor allem spannend wäre ja zu untersuchen, wenn man schon von verschiedenen Potenzialen eines Ortes spricht, was denn ein ganzheitlicher Tourismus konkret bedeutet. Kann Tourismus demnach zum Beispiel bei Wasserkraft, oder einer bestimmten Art und Weise von Energienutzung stattfinden? Zweifellos, es gilt aber zu definieren, was man in den jeweiligen Bereichen macht, zeigt und wen es anspricht. Auch in der Produktentwicklung und -verarbeitung oder eine bestimmte Holzverarbeitung können Potenziale darstellen. Es hat letztendlich immer den Aspekt, dass man mit Leuten darüber spricht, man etwas zeigt, und schon handelt es sich im Grunde genommen um eine Tourismusfrage.
SFa: Dabei zeichnen sich also zwei Interessensgemeinschaften ab; die lokale Bevölkerung mit ihrem Gewerbe, Wissen und Werten, und weiter die Gäste, die zwar nicht da wohnen, aber sich für etwas interessieren und womöglich gar anderes Wissen an den Ort bringen.
SFo: Letztere bringen auch eine grosse Verbundenheit mit, eine Identität, z. B. eben mit dem Tal. Das darf nicht vergessen werden, denn diese bringen sich ein, sofern man es auch zulässt. Das meinte ich auch mit der mentalen Blockade vorhin; man ist dann doch immer wieder froh, wenn die Gäste gegangen sind. Die Gäste werden quasi zum Problem, sobald sie bleiben wollen… Das ist natürlich die falsche Einstellung.
SFa: Das müsste ich auch in Anbetracht auf sogenannte exogene Ressourcen genauer erörtern, denn es rückt das Ganze ein wenig in ein anderes Licht für mich. Bis anhin war die Thematik der exogenen Ressourcen aus meiner Sicht eher mit den unvermeidbaren Abhängigkeiten von ausserhalb konnotiert. So betrachtet, kann es ja durchaus auch etwas Bereicherndes an sich haben, bestimmte humane Ressourcen, wie z. B. Interesse von aussen anzunehmen.
SFo: Soziale Innovation ist diesbezüglich ein Begriff und nach ihr wird in diesem Diskurs gefragt. Es zeichnet sich immer mehr auch im Forschungsbereich ab, dass es in solchen Regionen manche Ideen und Köpfe braucht, sogenanntes Humankapital. Eine Zeit lang wurden in manchen Regionen – sinnbildlich gesprochen – einfach Turnhallen und Strassen gebaut, die dann gar nicht gebraucht wurden. Nun zeigt sich, dass es eben auch diese soziale Innovation braucht, denn sonst bringt einem auch die Mehrzweckhalle nichts.
SFa: Hier kommt ja auch die Rolle der Architektur ins Spiel. Sie erwähnten bei unserem ersten schriftlichen Kontakt, dass Sie auch von Zeit zu Zeit mit Prof. Gion Caminada arbeiten und sprechen. Er vertritt als Einheimischer im Falle von Vrin eine Haltung, die zumindest so, wie ich sie wahrnehme, eine starke Lokalität wahrnimmt, zum Beispiel dank dem Diskurs mit den Einwohner*innen. Anderseits lehnt seine Haltung aber nicht grundsätzlich Ideen ab, die von ausserhalb des örtlichen Kontextes stammt. Ich denke gerade auch deswegen, weil ein intellektueller Diskurs über Architektur per se nicht nur lokal stattfinden kann.
SFo: Er fokussiert sich auch sehr stark auf die Bedürfnisse vor Ort. Ich war schon seit Anfang mit ihm dabei bei Projekten. Aus meiner Sicht macht er das schon sehr vorbildlich, denn er hat eine gute Art auf die Menschen zu hören, gleichzeitig seine Expertise und Ideen miteinzubringen und das Ganze dann zu verknüpfen mit den Wünschen der lokalen Akteure. Ich würde sagen, er ist ein Brückenbauer zwischen eben diesen Innen- und Aussensichten, die wir schon diskutiert haben. Vielleicht ist es ja gerade die Architektur, die diese Brückenfunktion übernimmt. Gerade mit der Gestaltung seiner Gebäude konnte er etwas im Lugnez auslösen.
Wenn die Leute einmal sehen, was dahintersteht oder das grosse Interesse daran wahrnehmen, das von Aussen kommt, führt dies zu einer Auseinandersetzung damit. Der Stall kann dann auf einmal anders aussehen, als dass er bis jetzt immer aussah.
SFa: Da spielt auch ein bestimmter identitätsstiftender Aspekt von Architektur eine Rolle. In Rheinwald ist Architektur sogar so divers, dass es umso interessanter wird. Eine Mischung aus barocken Säumerhäuser, die wiederrum aber auch sehr funktional zu sein hatten, trifft auf die eher ruralen Walsersiedlungen.
Konkret geht es bei mir nun darum, einen Entwicklungsbereich auszuwählen, der für mich auch ein wertvolles architektonisches Potenzial birgt, vom grossen bis in den kleinen Massstab hinein. Vereinfacht gesagt ist der architektonische Teil der Arbeit quasi die illustrative Gestalt dieses spezifischen Bereichs. Bei der Gestaltung muss allerdings stets die Gesamtheit der Talgenossenschaft berücksichtigt werden, da man sich sonst wieder in die Richtung einer Spezialisierungswirtschaft bewegt.
SFo: Da stellt sich nun natürlich die Frage für Sie, wie Sie diesen Bereich auswählen. Ich denke das ist quasi die Schlüsselstelle, die es als Aufgabe bei Ihrer Auslegeordnung auch zu beachten gilt. Zu schauen, was sind mögliche Pfade, die erfolgsversprechend sind.
Für den Tourismus gibt es ja auch aktuelle Tourismuskonzeptionen vor Ort, von denen Sie vielleicht auch schon von Denise Dillier gehört haben. Diesbezüglich wurde auch nach USPs* und möglichen «Attraktionen» gesucht, zum Beispiel kam so das naheliegende Thema des Wassers ins Spiel, mit dem Hinterrhein, der ein bestimmtes Potenzial darstellt. Natürlich sind das teilweise auch sehr klassische Herangehensweisen aus dem Tourimusbereich.
* Anmerkung SFa: Unique selling proposition
Gespräch mit Prof. Stefan Forster,
Leiter Forschungsbereich Tourismus und Nachhaltige Entwicklung der ZHAW in Wergenstein,
09.05.2020
Sven Fawer: In einer Publikation von 2016 haben Sie über das Konzept des «Ermöglicher-Netzwerkes» im Tourismus geschrieben. Dabei wird auch ein Abhängigkeitskreislauf verschiedener Bereiche einer Region, die nicht alleine auf Tourismus spezialisiert ist, beschrieben. Also quasi vom Gast, über den Gastgeber bis zu Bereichen wie z. B. die Landwirtschaft dieser Region oder das lokale Handwerk.
Mich würde vor allem interessieren, ob Sie diesbezüglich schon neue Erkenntnisse gewonnen haben, vor allem Dank der Bildung des neuen Naturparks Beverin, bei dem Sie mit Ihrer Aussenstelle der ZHAW eine zentrale Rolle gespielt haben, und von dem Rheinwald seit kurzem auch ein Teil ist.
Stefan Forster: Den Naturpark haben wir mit unserer Institution im Schams bzw. in Wergenstein ja sozusagen lanciert. Es war als Entwicklungsarbeit eine unserer ersten Aufgaben. Heute ist er als eigenständiger Verein quasi ein Spinn-off unserer Forschungsgruppe. Natürlich stehen wir immer noch nahe am Naturpark, da er praktisch seit seiner Geburt unser Forschungsobjekt ist. Dabei ist interessant, dass gerade durch dieses Gefüge – unser Institut hat seinen Sitz in Wädenswil – ein Austausch sowohl zwischen Stadt und Land, als auch zwischen Wissenschaft und Praxis stattfindet, was wahrscheinlich noch mehr Potenzial birg, als diese Kooperation schon tatsächlich bewirkt hat.
Der Naturpark war von Anfang an darauf ausgelegt, ein Ermöglicher zu sein. Das war und ist quasi die Philosophie dahinter. Er gibt ein Ziel vor; die Modellregion für Nachhaltigkeit. So soll er allen, die hier dieses Ziel auch sehen und verfolgen, helfen, ihre Ideen umzusetzen. Es hat somit fast schon etwas subversives an sich, weil Nachhaltigkeit als gemeinsames Ziel, das vorgegeben ist, etwas komplexes ist, was immer wieder erklärt werden muss. Das Ziel hat auch den Vorteil, dass Nachhaltigkeit breit und somit vieles möglich ist. Es ist nicht nur eine einzige Idee, wie z. B. Skifahren oder Radfahren. Seriös angewendet ist Nachhaltigkeit demnach durchaus eine Haltung, bei der manche mithalten wollen oder können und andere nicht. Es ist klar ein Ziel, das von unten nach oben agiert und schon vorgegeben ist.
Dies führt zu einem Problem, das auch so in Rheinwald ein Stück weit vorzufinden ist: der eigentliche Konsens lautet: Wo wollen wir hin? Nimmt man zum Beispiel die Bergbahnen, oder anders gesagt, sobald es mächtige Institutionen gibt, die auch politisch verbandelt sind, kann das oftmals eine Blockade bedeuten, die in einer Diskussion nicht weiterführt. Deshalb geht es darum, irgendwann Entscheide darüber zu fällen, in welche Richtung man gehen will.
Des Weiteren werden solche Naturpärke auch evaluiert. Dabei geht es auch um ihre Akzeptanz bei der lokalen Bevölkerung, und diesbezüglich wird der Park Beverin kaum in Frage gestellt. Anders als z. B. der Park Ela in Mittelbünden, der viel mehr Probleme hat und bei dem auch ein viel komplexeres System vorzufinden ist, wie beispielsweise ein stärkerer Tourismus, der mitbestimmt. Ich sehe demnach eine hohe Akzeptanz in direkter Relation zur eben erwähnten Ermöglicher-Strategie.
Wissenschaftlich gesehen planen wir die Effekte des Parks auch irgendwann mal anzuschauen. Grundsätzlich gibt es aber noch keine systematische Auswertung der Auswirkungen des Parks auf die Region.
SFa: Für mich ist unumstritten, dass die von Ihnen angesprochene Akzeptanz bei der Bevölkerung eine zentrale Rolle spielt. In Rheinwald war diese Thematik auch beim gescheiterten Nationalparkprojekt Adula ein zentraler Punkt. Bis auf Nufenen hatten die damaligen Gemeinden das Projekt klar befürwortet. Somit gilt die jetzige Eingliederung im Park Beverin quasi als Gegenantwort darauf und weiter als Zeugnis dafür, dass ein bestimmter Wille vorhanden ist, gerade zum Beispiel seine eigene nachhaltige Wirtschaftsweise nach aussen zu vermitteln.
SFo: Da war Rheinwald schon immer weit vorne dabei, gerade als eigentlich erstes Bio-Valley. Dies hatte man auch so kommuniziert, im Nachhinein vielleicht aber fast schon zu wenig. Heute ist dies eine Strategie, die vom Val Poschiavo sehr erfolgreich verfolgt wird. Eigentlich waren aber die Rheinwaldner*innen früher, und vor allem ohne Ausnahmen, zu 100% bereit gewesen.
SFa: Man spricht im Falle von Rheinwald vor allem von einer Spezialisierung auf die Bio-Milchwirtschaft. Im Laufe meiner Recherche bin ich zu der Hypothese gekommen, dass diese einseitige Ausrichtung ganz einfach geschichtlich gewachsen ist. Fokussiert man sich heute im Schams vermehrt wieder auf den Acker- bzw. Getreideanbau, waren im Rheinwald in früheren Zeiten schon immer genügend finanzielle Mittel vorhanden, um gerade Getreide von ausserhalb zuzukaufen. Dank dem Säumerwesen war nicht nur das Geld vorhanden, das Getreide konnte dank der Lage des Tals ja quasi beim vorbeikommen abgeladen werden und man konnte sich so die Schwierigkeiten und Unsicherheiten eines hochalpinen Getreideanbaus ersparen.
SFo: Rheinwald hat ja dank seiner Lage auch ein riesiges Potenzial und würde mehr Möglichkeiten bergen, als nur eine monokulturelle Milchwirtschaft. Im Misox z.B., auf der anderen Seite des S. Bernardinos, entstand ja so die Alpenlachszucht, dies nicht zuletzt wegen der logistisch guten Lage. Fisch wäre auch in Rheinwald ein tolles Produkt, auch mit dem Bezug auf den Hinterrhein. Klar müsste aber dafür auch ein Interesse der lokalen Bevölkerung vorhanden sein. Gerade die gut funktionierende Milchwirtschaft und ihre Subventionierung ist diesbezüglich ein Nachteil, denn so gibt es nicht viele Gründe für eine Strategieänderung.
SFa: Natürlich gibt es Faktoren, wie den Willen einer lokalen Bevölkerung, die man nicht beeinflussen kann. Dennoch sehe ich in Rheinwald auch gewisse teilweise schon vorhandene Ansätze, die sich nicht alleine nach einer einseitigen Milchlandwirtschaft richten. So sind z. B. bei den Sennereigenossenschaften Lösungsfindungen im Gang, was das Restprodukt, die Molke und ihre Verfütterung an genossenschaftseigene Schweine – die wiederum für ihr Fleisch gehalten werden – oder den Verkauf an die Lebensmittelindustrie angeht. Geschlossene Kreisläufe scheinen den Rheinwaldner*innen demnach auch wichtig zu sein.
SFo: Gerade bei der Sennerei Nufenen geht es ja offensichtlich um vielmehr, als Kreisläufe. Es geht um Marketing, um Verkauf, was auch auf eine sehr erfolgreiche Art und Weise, seit mehreren Jahrzehnten schon stattfindet. Für das Tal aber ginge es durchaus auch um andere Fragen; z. B. Nachhaltigkeit oder Suffizienz. Es ginge darum, wie man «das Tal» stärken kann und nicht alleine darum, wie viele Käse daraus herausrollen könnte. Das birgt natürlich auch eine Schwierigkeit: über solche Sachen mit den Leuten zu diskutieren, denn wenn etwas unbestritten gut läuft, stehen auch andere Sachen im Vordergrund, als solche Kreislaufgeschichten.
Im Gegensatz dazu haben Sennereien wie jene in Splügen, aber auch z. B. jene in Andeer eine regelrechte Haltung zum Beruf, eine ganzheitliche Sicht auf die Dinge. Es geht ihnen nicht alleine um möglichst viel Verkauf. Da zeigt sich dann ein anderes Problem innerhalb des Tals, nämlich die grossen Unterschiede in der Wahrnehmung davon, in welche Richtung es gehen soll.
Dabei fällt mir gerade eine Anekdote ein; wir hatten mal vor 10-15 Jahren eine Zukunftswerkstatt in Nufenen gemacht, das damals noch eine eigene Gemeinde war. Im Workshop ging es um ähnliche Zukunftsfragen und wir führten ein Tischgespräch mit Landwirt*innen über die biologische Landwirtschaft und ihren Erfolg. Dabei fragten wir auch, wo sie selber einkaufen würden und dabei kam heraus, dass viele im Tal nach Thusis fuhren, um Produkte in Läden wie Lidl oder Landi zu kaufen. Da zeigen sich schon die extremen Widersprüche in der ganzen Sache.
Natürlich findet gerade im Moment ein Wandel statt, was dieses Denken angeht. Es ist einfach ein wenig eine «Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen», weil es noch nicht überall gleich weit ist. Es gibt auch in Rheinwald Leute, die sich für eine solche Haltung durchaus interessieren. Aber es gibt dennoch einen Unterschied, gerade zu den Agglomerationen und Städten, wo ein Hype daraus entsteht, der jetzt durch die Corona-Krise nochmals grösser und beschleunigt wird, schaut man sich die neuesten Zahlen zu Bio-Produkte an. Rheinwald ist aber heute auch eine urbane Welt, wenn man so sagen will. Es gibt neue Leute, die kommen, es gibt Leute die Impulse von Aussen bringen und es wird sich heute womöglich auch schon etwas geändert haben, im Vergleich zu vor 10 Jahren.
SFa: Um nochmals auf den Tourismus zurückzukommen; Ich sehe momentan die Überschaubarkeit von Dörfern wie jene in Rheinwald oder z. B. auch im Schams als eine der grossen Chancen, um gegen eine Abhängigkeit von der Tourismusindustrie vorzugehen. Gerade aus lokal-gesellschaftlicher Sicht zeigt sich der Vorteil gegenüber sogenannten Alpinen-Resorts. Dank einer geringen Anzahl an Hotels oder Feriensiedlungen ist beispielsweise der Unterschied zwischen Hoch- und Nebensaison im Dorf weniger spürbar. Ein Dorfleben bleibt erhalten, wenn die Einwohnerzahl in der Nebensaison nicht drastisch sinkt und eine starke Fluktuation ausbleibt. So bleiben auch die meisten Infrastrukturen und Läden weiterbestehen und können weiterbenutzt werden. Urbanistisch gesprochen trifft die Bauweise solcher Dörfer die Ansprüche seiner dauerhaften Bevölkerung.
Natürlich stellt sich auch die Frage, welche Art von Gast eine solche Region anspricht. Neben Tagestourismus, der Abends wieder verschwunden ist, muss es eine Art von Gast sein, der andere Ansprüche hat, als jener in St. Moritz oder der Lenzerheide. Aber welche Leute sind das?
SFo: Das ist sicherlich eine wichtige Frage, gerade wenn es im Kontext Tourismus und Nachhaltigkeit darum geht, wegzukommen von einer starken Saisonalität oder von einseitigen Abhängigkeiten. Tourismus als Monokultur kann nicht nachhaltig sein. Die Idee ist also, dass der Tourismus breit abgestützt ist bzw. dass er branchenübergreifend ein Thema ist. Es geht eigentlich um eine Lebenssystem am Ort, was in etwa unserem Ansatz entspricht. Schwierig ist, dass Tourismus per se in vielen Köpfen ein wenig negativ konnotiert ist. Für den einen ist er die Heilsbringung, für den anderen des Teufels. Beide Haltungen bedeuten im Grundsatz aber ein falsches Verständnis davon, denn eigentlich geht es ja um Begegnung vor Ort, also ein sozialer, kultureller Aspekt, der bestenfalls auch einen Impuls und Austausch bewirkt. Das reicht bis zum Aspekt, dass ein Bauer seinen Salsiz verkaufen kann. Das alleinige Kaufen eines Angebotes oder Buchen eines Hotels greift aber demnach zu kurz. Es ist wichtig, dass man die gesamte Breite von Tourismus sieht, weil es letztendlich um eine Balance geht.
Man kann schon sagen, dass es in diesen Regionen mehr Leute von aussen braucht, gerade weil es kleinstrukturiert ist und weil es demographische Schwierigkeiten gibt. Und da fängt es schon an mit dem, was wir unter Tourismus verstehen; Es braucht neue Leute, neue Impulse. Das kann jemand sein, der etwas kauft oder der vielleicht eine Zweitwohnung in Rheinwald hat. Alleine das ist ein Potenzial für einen solche Region. Einseitige Zweitwohnungskulturen, wie im Oberengadin oder Crans-Montana sind nicht nachhaltig und sind eigentlich ein «Verscherbeln vom Tafelsilber», denn danach hat man keinen Einfluss mehr. Im Rheinwald aber kommen Leute, die unterschiedliche und verschieden lange Bezüge zur Region haben und sie so etwas wertvolles hinterlassen.
Das geht so weit, dass man auch die Flüchtlingsthematik miteinbeziehen könnte. Das sind auch neue Leute, die nach Europa kommen, an einen Ort wo es Räume gibt, bei denen es mehr Menschen bräuchte. An sich wäre das auch eine Art von Tourismus. Es sind Leute, die aus einem bestimmten Umfeld kommen und die neue Impulse einbringen könnten. Dazu fehlt natürlich oftmals die nötige Offenheit in manchen Regionen, solche Sachen offensiv anzugehen.
Gerade auch in dieser Corona-Zeit hat sich ja gezeigt, dass in manchen Gegenden die Zweitwohner auf einmal nicht mehr erwünscht sind. Es hat fast schon xenophobe Züge angenommen. Man kann fast sagen, dass ein Kernproblem jetzt aufgebrochen ist, das mit einer starken mentalen Blockade zu tun hat und quasi vertritt, dass jeder Aussenstehender nichts zu sagen hat.
Grundsätzlich geht es also um die Betrachtung der Diskussion um den Tourismus. Denn nur als Begriff ist er zu platt. Das hat Auswirkungen bis in die Forschung; es gibt in der Schweiz keine Uni mehr, die sich explizit ein Institut für Tourismus leistet. Es ist etwas, das zu banal ist und kein Renommee beinhaltet. Dennoch zeigt sich an jenen Orten, an denen wir uns damit beschäftigen, dass eine ganzheitliche Betrachtung des Begriffs eine zentrale Rolle in der Entwicklungsfrage spielt.
SFa: Es wird mir nach und nach klarer, dass der Tourismus durch sein komplexes Wesen womöglich zu umfangreich wäre als Entwicklungsthema für meine Arbeit. Dennoch finde ich Ihren Ansatz, Tourismus als etwas zu betrachten, dass alle Bereiche einer Region wie Rheinwald umfasst und so fast schon eine übergeordnete Rolle spielt, sehr wertvoll.
SFo: Vor allem spannend wäre ja zu untersuchen, wenn man schon von verschiedenen Potenzialen eines Ortes spricht, was denn ein ganzheitlicher Tourismus konkret bedeutet. Kann Tourismus demnach zum Beispiel bei Wasserkraft, oder einer bestimmten Art und Weise von Energienutzung stattfinden? Zweifellos, es gilt aber zu definieren, was man in den jeweiligen Bereichen macht, zeigt und wen es anspricht. Auch in der Produktentwicklung und -verarbeitung oder eine bestimmte Holzverarbeitung können Potenziale darstellen. Es hat letztendlich immer den Aspekt, dass man mit Leuten darüber spricht, man etwas zeigt, und schon handelt es sich im Grunde genommen um eine Tourismusfrage.
SFa: Dabei zeichnen sich also zwei Interessensgemeinschaften ab; die lokale Bevölkerung mit ihrem Gewerbe, Wissen und Werten, und weiter die Gäste, die zwar nicht da wohnen, aber sich für etwas interessieren und womöglich gar anderes Wissen an den Ort bringen.
SFo: Letztere bringen auch eine grosse Verbundenheit mit, eine Identität, z. B. eben mit dem Tal. Das darf nicht vergessen werden, denn diese bringen sich ein, sofern man es auch zulässt. Das meinte ich auch mit der mentalen Blockade vorhin; man ist dann doch immer wieder froh, wenn die Gäste gegangen sind. Die Gäste werden quasi zum Problem, sobald sie bleiben wollen… Das ist natürlich die falsche Einstellung.
SFa: Das müsste ich auch in Anbetracht auf sogenannte exogene Ressourcen genauer erörtern, denn es rückt das Ganze ein wenig in ein anderes Licht für mich. Bis anhin war die Thematik der exogenen Ressourcen aus meiner Sicht eher mit den unvermeidbaren Abhängigkeiten von ausserhalb konnotiert. So betrachtet, kann es ja durchaus auch etwas Bereicherndes an sich haben, bestimmte humane Ressourcen, wie z. B. Interesse von aussen anzunehmen.
SFo: Soziale Innovation ist diesbezüglich ein Begriff und nach ihr wird in diesem Diskurs gefragt. Es zeichnet sich immer mehr auch im Forschungsbereich ab, dass es in solchen Regionen manche Ideen und Köpfe braucht, sogenanntes Humankapital. Eine Zeit lang wurden in manchen Regionen – sinnbildlich gesprochen – einfach Turnhallen und Strassen gebaut, die dann gar nicht gebraucht wurden. Nun zeigt sich, dass es eben auch diese soziale Innovation braucht, denn sonst bringt einem auch die Mehrzweckhalle nichts.
SFa: Hier kommt ja auch die Rolle der Architektur ins Spiel. Sie erwähnten bei unserem ersten schriftlichen Kontakt, dass Sie auch von Zeit zu Zeit mit Prof. Gion Caminada arbeiten und sprechen. Er vertritt als Einheimischer im Falle von Vrin eine Haltung, die zumindest so, wie ich sie wahrnehme, eine starke Lokalität wahrnimmt, zum Beispiel dank dem Diskurs mit den Einwohner*innen. Anderseits lehnt seine Haltung aber nicht grundsätzlich Ideen ab, die von ausserhalb des örtlichen Kontextes stammt. Ich denke gerade auch deswegen, weil ein intellektueller Diskurs über Architektur per se nicht nur lokal stattfinden kann.
SFo: Er fokussiert sich auch sehr stark auf die Bedürfnisse vor Ort. Ich war schon seit Anfang mit ihm dabei bei Projekten. Aus meiner Sicht macht er das schon sehr vorbildlich, denn er hat eine gute Art auf die Menschen zu hören, gleichzeitig seine Expertise und Ideen miteinzubringen und das Ganze dann zu verknüpfen mit den Wünschen der lokalen Akteure. Ich würde sagen, er ist ein Brückenbauer zwischen eben diesen Innen- und Aussensichten, die wir schon diskutiert haben. Vielleicht ist es ja gerade die Architektur, die diese Brückenfunktion übernimmt. Gerade mit der Gestaltung seiner Gebäude konnte er etwas im Lugnez auslösen.
Wenn die Leute einmal sehen, was dahintersteht oder das grosse Interesse daran wahrnehmen, das von Aussen kommt, führt dies zu einer Auseinandersetzung damit. Der Stall kann dann auf einmal anders aussehen, als dass er bis jetzt immer aussah.
SFa: Da spielt auch ein bestimmter identitätsstiftender Aspekt von Architektur eine Rolle. In Rheinwald ist Architektur sogar so divers, dass es umso interessanter wird. Eine Mischung aus barocken Säumerhäuser, die wiederrum aber auch sehr funktional zu sein hatten, trifft auf die eher ruralen Walsersiedlungen.
Konkret geht es bei mir nun darum, einen Entwicklungsbereich auszuwählen, der für mich auch ein wertvolles architektonisches Potenzial birgt, vom grossen bis in den kleinen Massstab hinein. Vereinfacht gesagt ist der architektonische Teil der Arbeit quasi die illustrative Gestalt dieses spezifischen Bereichs. Bei der Gestaltung muss allerdings stets die Gesamtheit der Talgenossenschaft berücksichtigt werden, da man sich sonst wieder in die Richtung einer Spezialisierungswirtschaft bewegt.
SFo: Da stellt sich nun natürlich die Frage für Sie, wie Sie diesen Bereich auswählen. Ich denke das ist quasi die Schlüsselstelle, die es als Aufgabe bei Ihrer Auslegeordnung auch zu beachten gilt. Zu schauen, was sind mögliche Pfade, die erfolgsversprechend sind.
Für den Tourismus gibt es ja auch aktuelle Tourismuskonzeptionen vor Ort, von denen Sie vielleicht auch schon von Denise Dillier gehört haben. Diesbezüglich wurde auch nach USPs* und möglichen «Attraktionen» gesucht, zum Beispiel kam so das naheliegende Thema des Wassers ins Spiel, mit dem Hinterrhein, der ein bestimmtes Potenzial darstellt. Natürlich sind das teilweise auch sehr klassische Herangehensweisen aus dem Tourimusbereich.
* Anmerkung SFa: Unique selling proposition