In einem ersten Schritt wird eine Abschätzung des Konsum- und Produktionsvolumens von Rheinwald in Form eines jährlichen Gemeindehaushaltsbudget erstellt. Dabei werden alle Arbeitsbereiche der Gemeinde zusammengestellt, welche gegenwärtig vorhanden sind und Erträge oder Aufwände generieren. Zum einen sind dies die privaten Haushalte, deren Lohneinnahmen, Lebensunterhalte und Steuern. Zum anderen werden die Wertschöpfungen der Betriebe in der Gemeinde, also ihr Umsatz und ihre Vorleistungen aufgelistet. Zusätzlich werden noch Kosten für die Gemeinde miteinberechnet, die durch Unterhalt und Investitionen an kommunalen Infrastrukturen anfallen.
Das errechnete Volumen von Aufwand und Ertrag wird vor allem zwei Fragen aufwerfen; Was vermag die Gemeinde, oder ferner die Genossenschaft bezüglich Subsistenz mit dem errechneten Budget selbst zu decken? Und weiter die eher wachstumsbezogene Frage; wieviel muss hinsichtlich einer Suffizienz wirklich produziert werden?
Auf die Ermittlung der einzelnen Parameter wird in den nächsten Abschnitten genauer eingegangen. Es muss zudem an dieser Stelle betont werden, dass in dieser Rechnung nicht ausschliesslich empirische Daten, sondern auch Richtwerte und Statistiken benutzt werden. Demzufolge dürfen die Berechnungen nicht als ökonomisch-wissenschaftliche Beweise benutzt werden. Sie dienen in erster Linie dazu, sich einen allgemeinen Überblick über die lokalen Wertschöpfungen innerhalb der hypothetischen Talgenossenschaft zu verschaffen. So soll daraus in einem weiteren Schritt ergründet werden, welche Potenziale aus ökonomischer Sicht interessant scheinen und sich am besten für eine Weiterentwicklung eignen. Zur Abwägung und Überprüfung auf die Plausibilität gewisser Teile dieser Rechnung wurde die Beratung eines Ökonomen hinzugeholt. Der Abschnitt, welcher die Erträge und Aufwände der Gemeindeverwaltung Rheinwald betrifft, wurde auf Grundlage der ersten offiziellen Erfolgsrechnung der neuen Gemeinde für das Jahr 2019 aufgebaut.
INDIVIDUUM – Das jährliche steuerbare Einkommen von Rheinwald liegt nach Zahlen des Bundesamtes für Statistik bei 24'720 CHF pro Kopf12, was einem Monatseinkommen von 2'060 CHF pro Einwohner entspricht. Im Bezug zur Talgenossenschaft wird in der Rechnung der Begriff «Grundeinkommen» dafür benutzt. Dieses wird allen 600 Gemeindebewohner zugerechnet, denn so wird beispielsweise auch der Unterhalt von Kindern abgedeckt. Für einen vierköpfigen Haushalt beträgt das Einkommen also monatlich etwa 8'000 CHF.
Weiter werden die durchschnittlichen Ausgaben und Kosten jedes Individuums ermittelt. Die verwendeten Richtwerte basieren auf Erhebungen des Bundesamtes für Statistik für ein jährliches Haushaltsbudget und beziehen sich auf das Einkommen eines Schweizer Haushaltes.13 Manche Richtwerte werden diesbezüglich tiefer angesetzt, da die Lebensunterhaltskosten in Randregionen unter dem Schweizer Durchschnitt liegen. Steuern können hingegen auf den kommunalen und kantonalen Steuerfuss zurückgeführt werden. Auch durchschnittliche Ausgaben für Krankenkassen können genauer abgeschätzt werden, zumal das durchschnittliche Bevölkerungsalter bekannt ist. Für Ausgaben, welche mit der Lebensmittelversorgung verbunden sind, wird eine Annahme getroffen, die von täglichen Kosten von rund 16.50 CHF für eine Person ausgeht.
Um diesen individuellen Teil der Berechnung zu vertiefen wurde geschätzt, zu welchem Anteil für die einzelnen privaten Aufwände innerhalb der Genossenschaft selbst gesorgt werden kann. Dies entspricht den finanziellen Mitteln, welche innerhalb der Gemeinde bleiben werden. Je höher jener Wert ist, desto mehr ist die Gemeinde subsistenzwirtschaftlich. Unter den aktuellen Gegebenheiten wird beispielsweise ein grosser Anteil der Wohnkosten im Tal bleiben, zumal ein grosser Teil der Bauunternehmer oder Vermieter in Rheinwald ansässig sind. Dies trifft auch bei Energiekosten zu, da innerhalb der Gemeinde Kleinwasserkraftwerke betrieben werden oder manche Haushalte oder Betriebe PV-Anlagen privat installiert haben. Von den Steuerabgaben werden hingegen nur rund 43%14 an die Gemeinde fliessen.
Aus dieser Rechnung lässt sich letztendlich der Anteil des Einkommens ermitteln, der in der Gemeinde selbst generiert wird, indem man dem gesamten Grundeinkommen die Summe der aus dem Tal fliessenden Mittel abzieht. Da ein Teil der Beschäftigten in Rheinwald arbeitet, entspricht dieser Wert mitunter den Vorleistungen der lokalen Betriebe. Da aber diese Löhne im Grunde genommen innerhalb der Gemeinde bleiben, sind sie der Subsistenz, also der Selbstversorgung der Talgenossenschaft zuzuschreiben. Ihr Anteil liegt vorerst bei 41%. Diesen Wert gälte es womöglich mit Hilfe der genossenschaftlichen Struktur und erhöhten Subsistenz zu steigern.
BETRIEBE – In diesem Schritt wird die wirtschaftliche Bedeutung und Wertschöpfung der insgesamt 105 registrierten Unternehmen in der Gemeinde Rheinwald eingeschätzt. Primär wird hier der Fokus auf diejenigen Betriebe gelegt, welche hauptsächlich in Rheinwald tätig sind und bei einer Talgenossenschaft bzw. für eine Selbstversorgung eine entscheidende Rolle spielen könnten: namentlich sind dies Landwirtschafts-, Infrastruktur-, baugewerbliche und Dienstleistungsbetriebe. Niederlassungen von Banken, Versicherungen oder Detailhandelsketten werden in einem ersten Schritt nicht in die Rechnung miteinbezogen. Diese Aufgaben gälte es womöglich als Teile der Genossenschaft zu übernehmen.
Auch hier wird eine Deckung des Bedarfes innerhalb der Gemeinde miteinbezogen. Diese Leistungen werden dem Umsatz eines jeden Betriebes abgezogen mit dem Ziel, den Wert des Umsatzes der aus der Gemeinde exportierten Leistungen und Güter zu ermitteln. Wird beispielsweise ein neues Gebäude in Rheinwald errichtet, leisten der Sägereibetrieb und die jeweiligen Baubetriebe ihre Anteile daran. Diese Leistung entspricht einer Wertschöpfung, die innerhalb der Talgenossenschaft bleibt, was entsprechend in der Ertragsrechnung berücksichtigt wird.
Diesen Erträgen gegenüber stehen Ausgaben, die in jedem Unternehmen anfallen. Deren Werte setzen sich aus Löhnen, Unterhalt von Anlagen und Investitionen zusammen, die den Betrieb am Leben erhalten. Da auch diesbezüglich ein Teil dieser Leistungen im Tal erbracht werden können, wird ein entsprechender Anteil dieser Kosten wiederum abgezogen.
STROM – Im Energiebereich ist eine bestehende und projektierte Infrastruktur von diversen Kleinwasserkraftwerken in den einzelnen Fraktionen in Betrieb. An manchen Anlagen ist ein Grosskonzern beteiligt, der neben der Gemeinde die Finanzierung der Anlagen ermöglicht hat und dessen Anteile in dieser Rechnung abgezogen werden. Einem jährlichen gemeindeweiten Stromverbrauch von rund 12 GWh15 stehen total 21.91 GWh16 Produktion entgegen. Davon geht schätzungsweise die Hälfte an den Grosskonzern, was Rheinwald fast genau die Hälfte zur eigenen Bedarfsdeckung übrig lässt. Aktuell laufen die Kraftwerke über ein im Gesetz verankertes Modell der Einspeisevergütung, was die Infrastruktur an den Stromhandel und den momentanen Marktpreis einbindet. Der benötigte Strom wird seinerseits wieder von der Gemeinde auf dem Strommarkt eingekauft. In Bezug auf die hypothetische Talgenossenschaft wird hier jedoch von einer direkten Eigenbedarfsdeckung ausgegangen, was rechtlich grundsätzlich möglich ist.17
Der Richtpreis wird hier für den reinen Marktwert von Strom gewählt und ist deshalb tiefer als der Preis für Strom, der aus der Steckdose kommt. Zudem wurden die verwendeten Zahlen mit der detaillierten Jahresrechnung der Gemeinde für das Jahr 2019 abgeglichen.
Die Gemeinde selbst betreibt eine kleine Photovoltaik-Anlage in Nufenen. Nicht dokumentiert sind jedoch die privaten Anlagen, die meist für dem Eigenbedarf dienen, zum Beispiel auf Alpgebäuden. Bei einer durchschnittlichen Globalstrahlung von 1’300 KWh/m2 im Jahr für Rheinwald würden rund 25 Kleinanlagen an jeweils 70m2 Dachfläche eine zusätzliche Stromerzeugung von einem halben GWh bedeuten, welches der Talgenossenschaft zugute stünde.
Im Dorf Hinterrhein sind solche Anlagen auf rund fünf Ökonomiegebäuden installiert. Auf das erweiterte Potenzial der Photovoltaik wird im nächsten Kapitel genauer eingegangen. Ein zusätzlicher Aspekt, der einer Genossenschaft mit autonomer Stromwirtschaft entgegenkommen könnte und hier nicht berücksichtigt wird, ist die Einführung einer Technologie zur Speicherung des selbst produzierten Stroms.
LANDWIRTSCHAFT – Schnell wird in den Berechnungen ersichtlich, dass die Berglandwirtschaft ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor im Tal ist. Dem gegenüber steht jedoch eine grosse Summe an agrarpolitischen Direktzahlungen, welche von Bund und Kanton ins Tal fliesst. Um sich eine Übersicht zu verschaffen, wird hier zwischen Milchwirtschaft und Mutterkuhhaltung bzw. Fleischproduktion unterschieden. Die Kleintierhaltung wie Schafe und Ziegen ist in der Milchwirtschaft miteinbegriffen.
Die wahrscheinlich sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich wichtigsten Produkte, welche im Tal hergestellt werden, sind jene aus der biologischen Milchwirtschaft. Sie werden in den zwei Sennereigenossenschaften Splügen und Nufenen produziert, welche ihre Milch von rund 26 Milchkuhbetrieben in der Gemeinde beziehen. Sie verarbeiten zusammen jährlich fast zwei Millionen Kilogramm Milch.18 Die Sennereibetriebe werden nicht subventioniert, sie gehören aber den Bäuerinnen und Bauern. Die Sennereien sind somit auf die Landwirtschaftsbetriebe angewiesen, die ihrerseits durch Subventionen unterstützt werden.
Mit durchschnittlich dreissig Kühen pro Hof liegen die Milchkuhbetriebe in der Gemeinde Rheinwald mit ihrer Grösse knapp unter dem Durchschnitt der Betriebsgrösse des Kantons Graubünden. Aus betriebswirtschaftlichen Berechnungen des kantonalen Agrarkompetenzzentrums Plantahof liegen Zahlen vor, aus denen sich der Anteil an Direktzahlungen in der Ertragsrechnung eines Betriebes auf rund 50% einschätzen lassen.19 Demnach wären bei einem jährlichen Bruttoertrag von 250'000 CHF rund 125'000 CHF auf Subventionen zurückzuführen.
Es gilt an dieser Stelle zu betonen, dass in Berggemeinden wie Rheinwald neben Lohntransfers und anderen Direktzahlungen diese Zuschüsse auch zur Erbringung einer extensiven Landwirtschaft beitragen, die eine nachhaltige Kultivierung der Landschaft und Biodiversität garantiert.
Der Gedanken an eine Befreiung dieser Abhängigkeit ist im Tal durchaus präsent, für diesen Teil der Rechnung wird hier aber ein reiner Verkaufswert der gesamthaft produzierten und verarbeiteten Milchmenge für die Gemeinde ermittelt. Der Preis eines Kilogramm Milch setzt sich demnach sowohl aus Verkaufswert der Milch für Landwirt*innen – dies entspricht dem Preis, der durch Sennerei und Zuschläge des Bundes ausbezahlt wird – sowie aus der Produktions- bzw. Verarbeitungsleistungen der Sennereibetriebe zusammen. Dabei handelt es sich zum Beispiel um die Verkäsung oder die Reifungslagerung.
Über die Fleischproduktion im Tal lassen sich nur bedingt gut dokumentierte Zahlen finden, da gegenwärtig jeder Hof für die Schlachtung und Vermarktung seiner Produkte eine individuelle Vorgehensweise hat. Die Fleischprodukte werden folglich entweder direkt von den Betrieben oder in der lokalen Metzgerei vermarktet.
Es liegen jedoch Angaben zum Viehbestand sowie zur Anzahl an Mutterkuhbetrieben innerhalb der Gemeinde vor20, was wiederum eine Festlegung der durchschnittlichen Betriebsgrösse in Rheinwald ermöglicht. Auch in dieser Form von Viehhaltung sind die Betriebe nur knapp unter dem kantonalen Durchschnitt. Der Anteil der Subventionen in der Ertragsrechnung der Betriebe entspricht in etwa demjenigen in der Milchwirtschaft.
FORST UND STEIN – Durch die Jahrhunderte landwirtschaftlicher Nutzung wurde ein grosser Bestandteil der ursprünglichen Waldfläche in Rheinwald gerodet. 21 Doch durch den zeitgenössischen Rückgang der Landwirtschaftsfläche, seit 1979 alleine schon um 257ha22, konnte die Bewaldung im Tal wieder zunehmen. Heute sind rund 14.4% des Gemeindebodens von Wald und Gehölz bedeckt, was fast 2'000ha Waldfläche entspricht. Ein Teil davon ist im Besitz einer Waldkorporation, deren Mitglieder Einwohner*innen aus dem benachbarten Sufers sowie Rheinwald sind. Da sich diese Waldfläche teilweise innerhalb der Rheinwaldner Gemeindegrenze befindet, wurde ein entsprechender Teil in den Berechnungen miteinbezogen.
Die Zahlen zu den Holzmengen sind durch den Revierförster dokumentiert. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Holz, das durch Waldunterhalt innerhalb der Gemeinde anfällt und sowohl für den Eigenbedarf benutzt, als auch vermarktet wird. Zudem wurden die Zahlen mit denjenigen für die Holzwirtschaft in der Jahresrechnung 2019 der Gemeinde abgeglichen.
Die Bausubstanz in Rheinwald besteht sowohl aus Massiv- als auch aus Leichtbauten. Die Dächer werden in dieser Region von Graubünden bis auf einige zeitgenössische Beispiele allesamt mit Steinplatten gedeckt. Zu den Gesteinsarten, die historisch in Rheinwald abgebaut wurden, gehören mehrheitlich Gneise, aber auch Marmor und Schiefer sind im Gemeindegebiet zu finden. Die abgebauten Gneise sind heute unter den Bezeichnungen Splügenquarzit, Hinterrhein-Quarzit und S. Bernardino-Silber in der Baubranche bekannt. 23
Auf dem Gemeindegrund von Rheinwald sind gegenwärtig zwei Steinbrüche für den Abbau von Gneis in Hinterrhein aktiv und ein dritter in Planung. Sie werden jedoch von nicht-lokalen Betrieben geführt, die mit der Gemeinde eine Konzessionsvereinbarung von etwa 25 Jahren unterzeichnet haben. Diese beinhaltet zum einen eine jährliche Konzessionsgebühr für das abgebaute Material, zum anderen sind sie nach Ende der Abbauzeit dazu verpflichtet, die Steinbrüche gemäss bestimmten Auflagen in Stand zu stellen und zu sichern.
TOURISMUS – Der für den Tourismus ermittelten Umsatz setzt sich aus den dokumentierten obligatorischen Gästeabgaben und Berechnungen für Gastronomie- und Hotelleriebetriebe nach ihrer Mitarbeiterzahl und Preissegment zusammen.24 Schwer einschätzbar sind die Einnahmen von Privaten durch Parahotellerie, also z. B. Erträge aus der Vermietung von Ferienwohnungen.
Die Angaben zur Wirtschaftlichkeit der Bergbahnen basieren auf Zahlen des Geschäftsberichts für das Jahr 2019. Das Kapital des defizitären Betriebes besteht grösstenteils aus Darlehen. Auch die Gemeinde Rheinwald ist als Hauptaktionärin mit fast einem Drittel daran beteiligt, was bedeutet, dass dieses Fremdkapital teilweise aus Gemeindesteuergeldern besteht.
Allgemein ist zu beachten, dass die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung der Bergbahnen für Rheinwald viel grösser und komplexer ist, als ihr direkter Umsatz. Viele Unternehmen und Arbeitsplätze sind davon abhängig. Auf diese spezifische ökonomische Struktur wird in einem späteren Teil dieser Arbeit genauer eingegangen.
ÜBRIGE – Es gibt eine Anzahl an übrigen Betrieben, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen wird. Dank Angaben von Mitarbeiterzahlen wird von einer vereinfachten buchhalterischen Rechnung ausgegangen. Zum einen werden branchenübliche Werte benutzt, zum anderen wird die wirtschaftsgeographische Lage berücksichtigt. Die Mehrheit der dabei ermittelten Werte liessen sich durch Befragung der einzelnen Betriebe genau verifizieren, was den Rahmen dieser Arbeit allerdings sprengen würde.
STEUERN – Gewinnsteuern für Unternehmen an Bund und Kanton werden hier vereinfacht für die Bilanz aller Betriebe gerechnet. Relevant ist hier nicht die Bilanz der Eigenbedarfsrechnung, sondern die Differenz aus allen generierten Umsätzen und Ausgaben, was dem eigentlichen Gewinn der lokalen Betriebe entspricht. Gemeindesteuern werden wie bei den Privathaushalten abgezogen, da jene Gelder innerhalb der Gemeinde bleiben und somit der Selbstversorgung der Talgenossenschaft zuzurechnen wären.
GEMEINDEEINNAHMEN und -AUSGABEN – Die Steuereinnahmen, die durch die Zweitwohnungen generiert werden, sind eine wesentliche finanzielle Stütze für die Gemeinde Rheinwald. Es handelt sich dabei um insgesamt 510 Wohnungen, also mehr als 65% des gesamten Wohnungsbestands. Da Zweitwohner*innen im Kanton Graubünden ebenfalls Vermögens- und Einkommenssteuern – auch an die Gemeinde – bezahlen müssen, müssen diese Einnahmen in die Gesamtrechnung miteinbezogen werden. Die so generierten Steuereinnahmen entsprechen schätzungsweise einer halben Million CHF.
Die im Folgenden verwendeten Zahlen basieren auf der Jahresrechnung 2019 der Gemeinde Rheinwald und wurden mit dem Gemeindeschreiber diskutiert. Sie stammen aus der Erfolgsrechnung der neu fusionierten Gemeinde und liegen für das erste Jahr vor.
Die Kosten, die für die Gemeinde anfallen, werden im idealen Fall durch Steuergelder aus dem Gemeindehaushalt gedeckt und setzen sich aus verschiedenen Verantwortungen der lokalen Verwaltung und Ämtern zusammen. Darunter fallen Unterhalts-, Investitions- und Finanzierungskosten, aber auch Versicherungsschutz der Gemeinde, z. B. Haftpflicht oder für Unwetterschäden. Auch Bildungskosten gehören zu diesen Kosten, zumal Löhne für Lehrkräfte und Schulmaterial anfallen. Gleichzeitig werden auch Einnahmen durch Geschäftstätigkeit der Gemeinde generiert und werden in dieser Rechnung den Aufwänden gegenübergestellt.
Unter Unterhaltskosten fallen beispielsweise die Instandhaltung von Gemeindestrassen oder Schulgebäude. Bei den Investitionen kann es sich zum Beispiel um die Anschaffung von neuen Computern für die Verwaltung, aber auch um den Bau einer neuen Entsorgungsstelle handeln.
ERSTE ERKENNTNISSE – Die Bilanz der Erträge und Ausgaben der Gemeinde, ihrer Betriebe und ihrer Bevölkerung fällt erwartungsgemäss mit 2.65 Mio. CHF positiv aus. Auffällig ist dabei, dass die Landwirtschaft fast einen Drittel dieses Gewinnes ausmacht. Zieht man der Bilanz aber die Agrarsubventionen durch Bund und Kanton ab, die für die 35 lokalen Landwirtschaftsbetriebe zusammen geschätzte 4.2 Mio. CHF betragen, fällt die Endbilanz wiederum mit 1.55 Mio. CHF ins Negative.
Dieses Ausmass der Abhängigkeit der Gemeindegemeinschaft von Direktzahlungen entspricht dem Betrag, den es durch die genossenschaftliche Organisation zu decken gälte. Gleichzeitig könnten Ansätze wie Subsistenz, Suffizienz oder die optimierte Nutzung exogener und endogener Potenziale ermöglichen, den notwendigen Aufwand kleiner zu gestalten, als dieser es aufgrund der aktuellen Wirtschaftsweise wäre. Es gilt demnach zu überprüfen, wie die Endrechnung dank vorhandenen oder neuen Potenzialen ausfallen könnte.
Es gibt diverse Modelle und Ansätze, die in eine ähnliche Richtung gehen und durch ihren Gemeinschaftsgedanken lokale Wertschöpfungen zu stärken versuchen. Einerseits die historischen Beispiele wie Klöster, Allmenden oder Charles Fourier’s «Phalanstère» Modell. Andererseits zeitgenössischere Ansätze, die wiederum teilweise in Anlehnung an die historischen Konzepte entstanden sind. Beispiele dafür sind die in der Achtundsechziger Bewegung entstandene Longo-Mai-Bewegung25, welche eine stark kooperative Lebensweise in ländlichen Gegenden unterstützt oder die wachstumskritisch orientierte Kommune von Tarnac26, die ein gesamtes Dorf in Zentralfrankreich, seine Mikroökonomie und seine Kultur wieder zum Leben erweckt hat. Weiter auch das englische Transition-Town Totnes, das eine Zeit lang gar eine eigene lokale Währung einführte, um so das örtliche Gewerbe wieder zu revitalisieren.27 Diese Währung wurde zwar unterdessen von digitalen Zahlungsmethoden abgelöst, die Transition-Bewegung an sich findet aber bis heute weltweit Anhänger – auch in der Schweiz.28
An dieser Stelle soll betont werden, dass es für Rheinwald nicht in erster Linie um die Nachahmung eines der erwähnten Modelle geht. Vielmehr gilt es nun die Parameter zu ermitteln, die es der Talgenossenschaft Rheinwald erlauben könnten, eine stärkere Autonomie bzw. Subsistenz zu erreichen, denn schon einzelne Elemente könnten der Talgenossenschaft dabei entgegenkommen. Der vierte Abschnitt dieser Arbeit soll aufzeigen, dass gerade in Bezug auf eine nachhaltige Lebensweise, einige Ansätze und Potenziale in Rheinwald schon vorhanden sind. Diese sollen es zudem ermöglichen, die Ausstrahlung einer solchen Region in ein anderes Licht zu rücken – weg von der Vorstellung der «Alpinen Brache».
12 Bundesamt für Statistik, Durchschnittliches steuerbares Einkommen pro Kopf 2018
13 Bundesamt für Statistik, Haushaltsbudgeterhebung 2015-2017
14 Steuerrechner der Steuerverwaltung Graubünden für das Jahr 2019
(https://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/dfg/stv/
berechnen/Seiten/einkommens_und_vermoegenssteuer.aspx, aufgerufen am 16.04.2020)
15 Angaben der Krafwerke Hinterrhein AG
16 Amt für Energie und Verkehr Graubünden, Wasserkraftstatistik des Bundesamtes für Energie, Stand 1.1.2018
17 Siehe hierzu EnG Kap. 4, 30.09.2016, in Kraft seit 01.01.2018
18 Angaben der Sennereien Splügen und Nufenen
19 Siehe hierzu Duschletta und Rizzi 2019, S. 24 ff.
20 Angaben der Gemeinde Rheinwald und des Amtes für Landwirtschaft und Geoinformation Graubünden.
21 Siehe hierzu Oswald 1931, S. 39 ff.
22 BfS, Gemeindeprofil Rheinwald 2019
23 Siehe hierzu Eidgenössische Technische Hochschule Zürich – Materialsammlung 2016, S. 14-19
24 z. B. Kennzahlbroschüre für Gastronomie, Hotellerie und Tourismus der Treuhandfirma KATAG AG, 2016 (https://www.katag.ch/pdf/KATAG_Kennzahlenbroschuere_2016.pdf, aufgerufen am 21.03.2020)
25 Siehe hierzu https://www.prolongomai.ch/
26 Siehe hierzu Maak in Koolhaas et al. 2020, S. 42-51
27 Siehe hierzu https://www.transitiontowntotnes.org/about/what-is-transition/
28 Siehe hierzu z. B. http://www.transition-zuerich.ch/ oder https://transition-waedenswil.ch/
In einem ersten Schritt wird eine Abschätzung des Konsum- und Produktionsvolumens von Rheinwald in Form eines jährlichen Gemeindehaushaltsbudget erstellt. Dabei werden alle Arbeitsbereiche der Gemeinde zusammengestellt, welche gegenwärtig vorhanden sind und Erträge oder Aufwände generieren. Zum einen sind dies die privaten Haushalte, deren Lohneinnahmen, Lebensunterhalte und Steuern. Zum anderen werden die Wertschöpfungen der Betriebe in der Gemeinde, also ihr Umsatz und ihre Vorleistungen aufgelistet. Zusätzlich werden noch Kosten für die Gemeinde miteinberechnet, die durch Unterhalt und Investitionen an kommunalen Infrastrukturen anfallen.
Das errechnete Volumen von Aufwand und Ertrag wird vor allem zwei Fragen aufwerfen; Was vermag die Gemeinde, oder ferner die Genossenschaft bezüglich Subsistenz mit dem errechneten Budget selbst zu decken? Und weiter die eher wachstumsbezogene Frage; wieviel muss hinsichtlich einer Suffizienz wirklich produziert werden?
Auf die Ermittlung der einzelnen Parameter wird in den nächsten Abschnitten genauer eingegangen. Es muss zudem an dieser Stelle betont werden, dass in dieser Rechnung nicht ausschliesslich empirische Daten, sondern auch Richtwerte und Statistiken benutzt werden. Demzufolge dürfen die Berechnungen nicht als ökonomisch-wissenschaftliche Beweise benutzt werden. Sie dienen in erster Linie dazu, sich einen allgemeinen Überblick über die lokalen Wertschöpfungen innerhalb der hypothetischen Talgenossenschaft zu verschaffen. So soll daraus in einem weiteren Schritt ergründet werden, welche Potenziale aus ökonomischer Sicht interessant scheinen und sich am besten für eine Weiterentwicklung eignen. Zur Abwägung und Überprüfung auf die Plausibilität gewisser Teile dieser Rechnung wurde die Beratung eines Ökonomen hinzugeholt. Der Abschnitt, welcher die Erträge und Aufwände der Gemeindeverwaltung Rheinwald betrifft, wurde auf Grundlage der ersten offiziellen Erfolgsrechnung der neuen Gemeinde für das Jahr 2019 aufgebaut.
INDIVIDUUM – Das jährliche steuerbare Einkommen von Rheinwald liegt nach Zahlen des Bundesamtes für Statistik bei 24'720 CHF pro Kopf12, was einem Monatseinkommen von 2'060 CHF pro Einwohner entspricht. Im Bezug zur Talgenossenschaft wird in der Rechnung der Begriff «Grundeinkommen» dafür benutzt. Dieses wird allen 600 Gemeindebewohner zugerechnet, denn so wird beispielsweise auch der Unterhalt von Kindern abgedeckt. Für einen vierköpfigen Haushalt beträgt das Einkommen also monatlich etwa 8'000 CHF.
Weiter werden die durchschnittlichen Ausgaben und Kosten jedes Individuums ermittelt. Die verwendeten Richtwerte basieren auf Erhebungen des Bundesamtes für Statistik für ein jährliches Haushaltsbudget und beziehen sich auf das Einkommen eines Schweizer Haushaltes.13 Manche Richtwerte werden diesbezüglich tiefer angesetzt, da die Lebensunterhaltskosten in Randregionen unter dem Schweizer Durchschnitt liegen. Steuern können hingegen auf den kommunalen und kantonalen Steuerfuss zurückgeführt werden. Auch durchschnittliche Ausgaben für Krankenkassen können genauer abgeschätzt werden, zumal das durchschnittliche Bevölkerungsalter bekannt ist. Für Ausgaben, welche mit der Lebensmittelversorgung verbunden sind, wird eine Annahme getroffen, die von täglichen Kosten von rund 16.50 CHF für eine Person ausgeht.
Um diesen individuellen Teil der Berechnung zu vertiefen wurde geschätzt, zu welchem Anteil für die einzelnen privaten Aufwände innerhalb der Genossenschaft selbst gesorgt werden kann. Dies entspricht den finanziellen Mitteln, welche innerhalb der Gemeinde bleiben werden. Je höher jener Wert ist, desto mehr ist die Gemeinde subsistenzwirtschaftlich. Unter den aktuellen Gegebenheiten wird beispielsweise ein grosser Anteil der Wohnkosten im Tal bleiben, zumal ein grosser Teil der Bauunternehmer oder Vermieter in Rheinwald ansässig sind. Dies trifft auch bei Energiekosten zu, da innerhalb der Gemeinde Kleinwasserkraftwerke betrieben werden oder manche Haushalte oder Betriebe PV-Anlagen privat installiert haben. Von den Steuerabgaben werden hingegen nur rund 43%14 an die Gemeinde fliessen.
Aus dieser Rechnung lässt sich letztendlich der Anteil des Einkommens ermitteln, der in der Gemeinde selbst generiert wird, indem man dem gesamten Grundeinkommen die Summe der aus dem Tal fliessenden Mittel abzieht. Da ein Teil der Beschäftigten in Rheinwald arbeitet, entspricht dieser Wert mitunter den Vorleistungen der lokalen Betriebe. Da aber diese Löhne im Grunde genommen innerhalb der Gemeinde bleiben, sind sie der Subsistenz, also der Selbstversorgung der Talgenossenschaft zuzuschreiben. Ihr Anteil liegt vorerst bei 41%. Diesen Wert gälte es womöglich mit Hilfe der genossenschaftlichen Struktur und erhöhten Subsistenz zu steigern.
BETRIEBE – In diesem Schritt wird die wirtschaftliche Bedeutung und Wertschöpfung der insgesamt 105 registrierten Unternehmen in der Gemeinde Rheinwald eingeschätzt. Primär wird hier der Fokus auf diejenigen Betriebe gelegt, welche hauptsächlich in Rheinwald tätig sind und bei einer Talgenossenschaft bzw. für eine Selbstversorgung eine entscheidende Rolle spielen könnten: namentlich sind dies Landwirtschafts-, Infrastruktur-, baugewerbliche und Dienstleistungsbetriebe. Niederlassungen von Banken, Versicherungen oder Detailhandelsketten werden in einem ersten Schritt nicht in die Rechnung miteinbezogen. Diese Aufgaben gälte es womöglich als Teile der Genossenschaft zu übernehmen.
Auch hier wird eine Deckung des Bedarfes innerhalb der Gemeinde miteinbezogen. Diese Leistungen werden dem Umsatz eines jeden Betriebes abgezogen mit dem Ziel, den Wert des Umsatzes der aus der Gemeinde exportierten Leistungen und Güter zu ermitteln. Wird beispielsweise ein neues Gebäude in Rheinwald errichtet, leisten der Sägereibetrieb und die jeweiligen Baubetriebe ihre Anteile daran. Diese Leistung entspricht einer Wertschöpfung, die innerhalb der Talgenossenschaft bleibt, was entsprechend in der Ertragsrechnung berücksichtigt wird.
Diesen Erträgen gegenüber stehen Ausgaben, die in jedem Unternehmen anfallen. Deren Werte setzen sich aus Löhnen, Unterhalt von Anlagen und Investitionen zusammen, die den Betrieb am Leben erhalten. Da auch diesbezüglich ein Teil dieser Leistungen im Tal erbracht werden können, wird ein entsprechender Anteil dieser Kosten wiederum abgezogen.
STROM – Im Energiebereich ist eine bestehende und projektierte Infrastruktur von diversen Kleinwasserkraftwerken in den einzelnen Fraktionen in Betrieb. An manchen Anlagen ist ein Grosskonzern beteiligt, der neben der Gemeinde die Finanzierung der Anlagen ermöglicht hat und dessen Anteile in dieser Rechnung abgezogen werden. Einem jährlichen gemeindeweiten Stromverbrauch von rund 12 GWh15 stehen total 21.91 GWh16 Produktion entgegen. Davon geht schätzungsweise die Hälfte an den Grosskonzern, was Rheinwald fast genau die Hälfte zur eigenen Bedarfsdeckung übrig lässt. Aktuell laufen die Kraftwerke über ein im Gesetz verankertes Modell der Einspeisevergütung, was die Infrastruktur an den Stromhandel und den momentanen Marktpreis einbindet. Der benötigte Strom wird seinerseits wieder von der Gemeinde auf dem Strommarkt eingekauft. In Bezug auf die hypothetische Talgenossenschaft wird hier jedoch von einer direkten Eigenbedarfsdeckung ausgegangen, was rechtlich grundsätzlich möglich ist.17
Der Richtpreis wird hier für den reinen Marktwert von Strom gewählt und ist deshalb tiefer als der Preis für Strom, der aus der Steckdose kommt. Zudem wurden die verwendeten Zahlen mit der detaillierten Jahresrechnung der Gemeinde für das Jahr 2019 abgeglichen.
Die Gemeinde selbst betreibt eine kleine Photovoltaik-Anlage in Nufenen. Nicht dokumentiert sind jedoch die privaten Anlagen, die meist für dem Eigenbedarf dienen, zum Beispiel auf Alpgebäuden. Bei einer durchschnittlichen Globalstrahlung von 1’300 KWh/m2 im Jahr für Rheinwald würden rund 25 Kleinanlagen an jeweils 70m2 Dachfläche eine zusätzliche Stromerzeugung von einem halben GWh bedeuten, welches der Talgenossenschaft zugute stünde.
Im Dorf Hinterrhein sind solche Anlagen auf rund fünf Ökonomiegebäuden installiert. Auf das erweiterte Potenzial der Photovoltaik wird im nächsten Kapitel genauer eingegangen. Ein zusätzlicher Aspekt, der einer Genossenschaft mit autonomer Stromwirtschaft entgegenkommen könnte und hier nicht berücksichtigt wird, ist die Einführung einer Technologie zur Speicherung des selbst produzierten Stroms.
LANDWIRTSCHAFT – Schnell wird in den Berechnungen ersichtlich, dass die Berglandwirtschaft ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor im Tal ist. Dem gegenüber steht jedoch eine grosse Summe an agrarpolitischen Direktzahlungen, welche von Bund und Kanton ins Tal fliesst. Um sich eine Übersicht zu verschaffen, wird hier zwischen Milchwirtschaft und Mutterkuhhaltung bzw. Fleischproduktion unterschieden. Die Kleintierhaltung wie Schafe und Ziegen ist in der Milchwirtschaft miteinbegriffen.
Die wahrscheinlich sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich wichtigsten Produkte, welche im Tal hergestellt werden, sind jene aus der biologischen Milchwirtschaft. Sie werden in den zwei Sennereigenossenschaften Splügen und Nufenen produziert, welche ihre Milch von rund 26 Milchkuhbetrieben in der Gemeinde beziehen. Sie verarbeiten zusammen jährlich fast zwei Millionen Kilogramm Milch.18 Die Sennereibetriebe werden nicht subventioniert, sie gehören aber den Bäuerinnen und Bauern. Die Sennereien sind somit auf die Landwirtschaftsbetriebe angewiesen, die ihrerseits durch Subventionen unterstützt werden.
Mit durchschnittlich dreissig Kühen pro Hof liegen die Milchkuhbetriebe in der Gemeinde Rheinwald mit ihrer Grösse knapp unter dem Durchschnitt der Betriebsgrösse des Kantons Graubünden. Aus betriebswirtschaftlichen Berechnungen des kantonalen Agrarkompetenzzentrums Plantahof liegen Zahlen vor, aus denen sich der Anteil an Direktzahlungen in der Ertragsrechnung eines Betriebes auf rund 50% einschätzen lassen.19 Demnach wären bei einem jährlichen Bruttoertrag von 250'000 CHF rund 125'000 CHF auf Subventionen zurückzuführen.
Es gilt an dieser Stelle zu betonen, dass in Berggemeinden wie Rheinwald neben Lohntransfers und anderen Direktzahlungen diese Zuschüsse auch zur Erbringung einer extensiven Landwirtschaft beitragen, die eine nachhaltige Kultivierung der Landschaft und Biodiversität garantiert.
Der Gedanken an eine Befreiung dieser Abhängigkeit ist im Tal durchaus präsent, für diesen Teil der Rechnung wird hier aber ein reiner Verkaufswert der gesamthaft produzierten und verarbeiteten Milchmenge für die Gemeinde ermittelt. Der Preis eines Kilogramm Milch setzt sich demnach sowohl aus Verkaufswert der Milch für Landwirt*innen – dies entspricht dem Preis, der durch Sennerei und Zuschläge des Bundes ausbezahlt wird – sowie aus der Produktions- bzw. Verarbeitungsleistungen der Sennereibetriebe zusammen. Dabei handelt es sich zum Beispiel um die Verkäsung oder die Reifungslagerung.
Über die Fleischproduktion im Tal lassen sich nur bedingt gut dokumentierte Zahlen finden, da gegenwärtig jeder Hof für die Schlachtung und Vermarktung seiner Produkte eine individuelle Vorgehensweise hat. Die Fleischprodukte werden folglich entweder direkt von den Betrieben oder in der lokalen Metzgerei vermarktet.
Es liegen jedoch Angaben zum Viehbestand sowie zur Anzahl an Mutterkuhbetrieben innerhalb der Gemeinde vor20, was wiederum eine Festlegung der durchschnittlichen Betriebsgrösse in Rheinwald ermöglicht. Auch in dieser Form von Viehhaltung sind die Betriebe nur knapp unter dem kantonalen Durchschnitt. Der Anteil der Subventionen in der Ertragsrechnung der Betriebe entspricht in etwa demjenigen in der Milchwirtschaft.
FORST UND STEIN – Durch die Jahrhunderte landwirtschaftlicher Nutzung wurde ein grosser Bestandteil der ursprünglichen Waldfläche in Rheinwald gerodet. 21 Doch durch den zeitgenössischen Rückgang der Landwirtschaftsfläche, seit 1979 alleine schon um 257ha22, konnte die Bewaldung im Tal wieder zunehmen. Heute sind rund 14.4% des Gemeindebodens von Wald und Gehölz bedeckt, was fast 2'000ha Waldfläche entspricht. Ein Teil davon ist im Besitz einer Waldkorporation, deren Mitglieder Einwohner*innen aus dem benachbarten Sufers sowie Rheinwald sind. Da sich diese Waldfläche teilweise innerhalb der Rheinwaldner Gemeindegrenze befindet, wurde ein entsprechender Teil in den Berechnungen miteinbezogen.
Die Zahlen zu den Holzmengen sind durch den Revierförster dokumentiert. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Holz, das durch Waldunterhalt innerhalb der Gemeinde anfällt und sowohl für den Eigenbedarf benutzt, als auch vermarktet wird. Zudem wurden die Zahlen mit denjenigen für die Holzwirtschaft in der Jahresrechnung 2019 der Gemeinde abgeglichen.
Die Bausubstanz in Rheinwald besteht sowohl aus Massiv- als auch aus Leichtbauten. Die Dächer werden in dieser Region von Graubünden bis auf einige zeitgenössische Beispiele allesamt mit Steinplatten gedeckt. Zu den Gesteinsarten, die historisch in Rheinwald abgebaut wurden, gehören mehrheitlich Gneise, aber auch Marmor und Schiefer sind im Gemeindegebiet zu finden. Die abgebauten Gneise sind heute unter den Bezeichnungen Splügenquarzit, Hinterrhein-Quarzit und S. Bernardino-Silber in der Baubranche bekannt. 23
Auf dem Gemeindegrund von Rheinwald sind gegenwärtig zwei Steinbrüche für den Abbau von Gneis in Hinterrhein aktiv und ein dritter in Planung. Sie werden jedoch von nicht-lokalen Betrieben geführt, die mit der Gemeinde eine Konzessionsvereinbarung von etwa 25 Jahren unterzeichnet haben. Diese beinhaltet zum einen eine jährliche Konzessionsgebühr für das abgebaute Material, zum anderen sind sie nach Ende der Abbauzeit dazu verpflichtet, die Steinbrüche gemäss bestimmten Auflagen in Stand zu stellen und zu sichern.
TOURISMUS – Der für den Tourismus ermittelten Umsatz setzt sich aus den dokumentierten obligatorischen Gästeabgaben und Berechnungen für Gastronomie- und Hotelleriebetriebe nach ihrer Mitarbeiterzahl und Preissegment zusammen.24 Schwer einschätzbar sind die Einnahmen von Privaten durch Parahotellerie, also z. B. Erträge aus der Vermietung von Ferienwohnungen.
Die Angaben zur Wirtschaftlichkeit der Bergbahnen basieren auf Zahlen des Geschäftsberichts für das Jahr 2019. Das Kapital des defizitären Betriebes besteht grösstenteils aus Darlehen. Auch die Gemeinde Rheinwald ist als Hauptaktionärin mit fast einem Drittel daran beteiligt, was bedeutet, dass dieses Fremdkapital teilweise aus Gemeindesteuergeldern besteht.
Allgemein ist zu beachten, dass die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung der Bergbahnen für Rheinwald viel grösser und komplexer ist, als ihr direkter Umsatz. Viele Unternehmen und Arbeitsplätze sind davon abhängig. Auf diese spezifische ökonomische Struktur wird in einem späteren Teil dieser Arbeit genauer eingegangen.
ÜBRIGE – Es gibt eine Anzahl an übrigen Betrieben, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen wird. Dank Angaben von Mitarbeiterzahlen wird von einer vereinfachten buchhalterischen Rechnung ausgegangen. Zum einen werden branchenübliche Werte benutzt, zum anderen wird die wirtschaftsgeographische Lage berücksichtigt. Die Mehrheit der dabei ermittelten Werte liessen sich durch Befragung der einzelnen Betriebe genau verifizieren, was den Rahmen dieser Arbeit allerdings sprengen würde.
STEUERN – Gewinnsteuern für Unternehmen an Bund und Kanton werden hier vereinfacht für die Bilanz aller Betriebe gerechnet. Relevant ist hier nicht die Bilanz der Eigenbedarfsrechnung, sondern die Differenz aus allen generierten Umsätzen und Ausgaben, was dem eigentlichen Gewinn der lokalen Betriebe entspricht. Gemeindesteuern werden wie bei den Privathaushalten abgezogen, da jene Gelder innerhalb der Gemeinde bleiben und somit der Selbstversorgung der Talgenossenschaft zuzurechnen wären.
GEMEINDEEINNAHMEN und -AUSGABEN – Die Steuereinnahmen, die durch die Zweitwohnungen generiert werden, sind eine wesentliche finanzielle Stütze für die Gemeinde Rheinwald. Es handelt sich dabei um insgesamt 510 Wohnungen, also mehr als 65% des gesamten Wohnungsbestands. Da Zweitwohner*innen im Kanton Graubünden ebenfalls Vermögens- und Einkommenssteuern – auch an die Gemeinde – bezahlen müssen, müssen diese Einnahmen in die Gesamtrechnung miteinbezogen werden. Die so generierten Steuereinnahmen entsprechen schätzungsweise einer halben Million CHF.
Die im Folgenden verwendeten Zahlen basieren auf der Jahresrechnung 2019 der Gemeinde Rheinwald und wurden mit dem Gemeindeschreiber diskutiert. Sie stammen aus der Erfolgsrechnung der neu fusionierten Gemeinde und liegen für das erste Jahr vor.
Die Kosten, die für die Gemeinde anfallen, werden im idealen Fall durch Steuergelder aus dem Gemeindehaushalt gedeckt und setzen sich aus verschiedenen Verantwortungen der lokalen Verwaltung und Ämtern zusammen. Darunter fallen Unterhalts-, Investitions- und Finanzierungskosten, aber auch Versicherungsschutz der Gemeinde, z. B. Haftpflicht oder für Unwetterschäden. Auch Bildungskosten gehören zu diesen Kosten, zumal Löhne für Lehrkräfte und Schulmaterial anfallen. Gleichzeitig werden auch Einnahmen durch Geschäftstätigkeit der Gemeinde generiert und werden in dieser Rechnung den Aufwänden gegenübergestellt.
Unter Unterhaltskosten fallen beispielsweise die Instandhaltung von Gemeindestrassen oder Schulgebäude. Bei den Investitionen kann es sich zum Beispiel um die Anschaffung von neuen Computern für die Verwaltung, aber auch um den Bau einer neuen Entsorgungsstelle handeln.
ERSTE ERKENNTNISSE – Die Bilanz der Erträge und Ausgaben der Gemeinde, ihrer Betriebe und ihrer Bevölkerung fällt erwartungsgemäss mit 2.65 Mio. CHF positiv aus. Auffällig ist dabei, dass die Landwirtschaft fast einen Drittel dieses Gewinnes ausmacht. Zieht man der Bilanz aber die Agrarsubventionen durch Bund und Kanton ab, die für die 35 lokalen Landwirtschaftsbetriebe zusammen geschätzte 4.2 Mio. CHF betragen, fällt die Endbilanz wiederum mit 1.55 Mio. CHF ins Negative.
Dieses Ausmass der Abhängigkeit der Gemeindegemeinschaft von Direktzahlungen entspricht dem Betrag, den es durch die genossenschaftliche Organisation zu decken gälte. Gleichzeitig könnten Ansätze wie Subsistenz, Suffizienz oder die optimierte Nutzung exogener und endogener Potenziale ermöglichen, den notwendigen Aufwand kleiner zu gestalten, als dieser es aufgrund der aktuellen Wirtschaftsweise wäre. Es gilt demnach zu überprüfen, wie die Endrechnung dank vorhandenen oder neuen Potenzialen ausfallen könnte.
Es gibt diverse Modelle und Ansätze, die in eine ähnliche Richtung gehen und durch ihren Gemeinschaftsgedanken lokale Wertschöpfungen zu stärken versuchen. Einerseits die historischen Beispiele wie Klöster, Allmenden oder Charles Fourier’s «Phalanstère» Modell. Andererseits zeitgenössischere Ansätze, die wiederum teilweise in Anlehnung an die historischen Konzepte entstanden sind. Beispiele dafür sind die in der Achtundsechziger Bewegung entstandene Longo-Mai-Bewegung25, welche eine stark kooperative Lebensweise in ländlichen Gegenden unterstützt oder die wachstumskritisch orientierte Kommune von Tarnac26, die ein gesamtes Dorf in Zentralfrankreich, seine Mikroökonomie und seine Kultur wieder zum Leben erweckt hat. Weiter auch das englische Transition-Town Totnes, das eine Zeit lang gar eine eigene lokale Währung einführte, um so das örtliche Gewerbe wieder zu revitalisieren.27 Diese Währung wurde zwar unterdessen von digitalen Zahlungsmethoden abgelöst, die Transition-Bewegung an sich findet aber bis heute weltweit Anhänger – auch in der Schweiz.28
An dieser Stelle soll betont werden, dass es für Rheinwald nicht in erster Linie um die Nachahmung eines der erwähnten Modelle geht. Vielmehr gilt es nun die Parameter zu ermitteln, die es der Talgenossenschaft Rheinwald erlauben könnten, eine stärkere Autonomie bzw. Subsistenz zu erreichen, denn schon einzelne Elemente könnten der Talgenossenschaft dabei entgegenkommen. Der vierte Abschnitt dieser Arbeit soll aufzeigen, dass gerade in Bezug auf eine nachhaltige Lebensweise, einige Ansätze und Potenziale in Rheinwald schon vorhanden sind. Diese sollen es zudem ermöglichen, die Ausstrahlung einer solchen Region in ein anderes Licht zu rücken – weg von der Vorstellung der «Alpinen Brache».
12 Bundesamt für Statistik, Durchschnittliches steuerbares Einkommen pro Kopf 2018
13 Bundesamt für Statistik, Haushaltsbudgeterhebung 2015-2017
14 Steuerrechner der Steuerverwaltung Graubünden für das Jahr 2019
(https://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/dfg/stv/
berechnen/Seiten/einkommens_und_vermoegenssteuer.aspx, aufgerufen am 16.04.2020)
15 Angaben der Krafwerke Hinterrhein AG
16 Amt für Energie und Verkehr Graubünden, Wasserkraftstatistik des Bundesamtes für Energie, Stand 1.1.2018
17 Siehe hierzu EnG Kap. 4, 30.09.2016, in Kraft seit 01.01.2018
18 Angaben der Sennereien Splügen und Nufenen
19 Siehe hierzu Duschletta und Rizzi 2019, S. 24 ff.
20 Angaben der Gemeinde Rheinwald und des Amtes für Landwirtschaft und Geoinformation Graubünden.
21 Siehe hierzu Oswald 1931, S. 39 ff.
22 BfS, Gemeindeprofil Rheinwald 2019
23 Siehe hierzu Eidgenössische Technische Hochschule Zürich – Materialsammlung 2016, S. 14-19
24 z. B. Kennzahlbroschüre für Gastronomie, Hotellerie und Tourismus der Treuhandfirma KATAG AG, 2016 (https://www.katag.ch/pdf/KATAG_Kennzahlenbroschuere_2016.pdf, aufgerufen am 21.03.2020)
25 Siehe hierzu https://www.prolongomai.ch/
26 Siehe hierzu Maak in Koolhaas et al. 2020, S. 42-51
27 Siehe hierzu https://www.transitiontowntotnes.org/about/what-is-transition/
28 Siehe hierzu z. B. http://www.transition-zuerich.ch/ oder https://transition-waedenswil.ch/